Christoph Wirl, Herausgeber vom Magazin TRAiNiNG hat mich als Expertin für gesunde Leistungsstärke, Autorin von „leistungsstark & lebensfroh mein Leben gestalten“ zum Thema Employee Wellbeing interviewt.

Übrigens: Christoph Wirl war auch einer der Juroren, die mich aufgrund des Vortrags „Aufblühen statt Ausglühen – raus aus dem Stress & rein in den Flow“ zum Speaker des Jahres 2024 gekürt haben.

Hier meine Antworten:

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Christoph Wirl (C.W.): Wie hat sich das Verständnis von Employee Wellbeing in den letzten Jahren verändert?
Welche Rolle spielt mentale Gesundheit heute im Vergleich zu früher?

Schon die unterschiedlichen Bezeichnungen machen die Veränderung sichtbar: Hat man unter Betrieblicher Gesundheitsvorsorge eher Vermeidung vor körperlichen Beeinträchtigungen von Staubschutz bis Impfungen verstanden, so geht es bei Corporate Heath zunehmend auch um psychische Gesundheit. Ein deutlicher Shift ist auch von Krankheitsvermeidung zu Gesundheitsförderung. Zunehmend rückt Stressmanagement und Förderung der Resilienz in den Fokus. In beiden Konzepten ist die Reduktion von Krankenständen und die Erhaltung der Leistungsfähigkeit aus unternehmerischer Sicht das primäre Ziel.

Employee Wellbeing knüpft an den idealisierenden dreidimensionalen Gesundheitsbegriff der WHO an: Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen. Hier ist das primäre Ziel die Attraktivität als Arbeitgeber und die Reduktion der Fluktuation.

Prof. Tobias Esch, Neuro- und Gesundheitswissenschaftler sowie Professor für Integrative Gesundheitsförderung spricht zusätzlich von semantischer Gesundheit als vierte Dimension. Sie geht über die üblichen körperlichen, psychischen und sozialen Aspekte hinaus. Gesundheit hängt maßgeblich von erlebter Sinnhaftigkeit, Bedeutsamkeit, Verbundenheit und Verwurzelung ab. Das trifft den Kern einer zielführenden Employee Wellbeing Strategie: Fühle ich mich hier richtig aufgehoben und sinnvoll eingesetzt?

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C.W.: Warum ist das Thema mentale Gesundheit längst kein „Nice-to-have“ mehr, sondern ein strategischer Erfolgsfaktor für Unternehmen?

Die Great Place to Work® „Global Wellbeing Benchmark Study“ (2024) zeigt: In Österreich sehen nur 21% der Beschäftigten ihre Arbeit als wirklich erfüllend, vier Fünftel sind kritisch, was auf einen großen Handlungsbedarf bei Arbeitgebern hindeutet. Unternehmen, die aktiv Employee Wellbeing fördern, sind deutlich attraktiver für Bewerber, bringen innovative Konzepte hervor und werden als zukunftsfähig wahrgenommen. Und Unternehmen, die sich in diesem Bereich engagieren, können sich damit von anderen differenzieren. Denn die aktuelle WTW Benefits Trends Studie 2023/2024 dokumentiert, dass 40% der Beschäftigten die Gesundheits- und Wellbeing-Angebote ihres Arbeitgebers kritisch bewerten.

Work-Life-Balance – ich spreche lieber von Life-in-Balance, weil selbst innere Kündigung nichts daran ändert, dass Arbeitszeit Lebenszeit ist – hat nicht nur für jüngere Mitarbeitende sehr hohe Priorität. Wenn es gelingt, berufliche Lebensqualität zu steigern, ist das der wirkungsvollste Anreiz auch länger zu arbeiten.

Flow ist die gesunde Dosis von Stress. Dafür braucht es einerseits sinnstiftende Ziele und andererseits herausfordernde Aufgabenstellungen. Erstere lösen in unserem Gehirn den Neuromodulator Dopamin aus: Die Vorfreude auf das gute Gefühl, das sich einstellen wird, wenn ich es geschafft haben werde. Nur wenn es auch stressig wird, was Cortisol in unserem Gehirn bewirkt, tritt eine biochemische Reaktion in Kraft, an deren Ende die Ausschüttung von endogenen Opioden: das beglückende Gefühl, wenn wir etwas geschafft und idealerweise auch geschaffen haben. Krank werden wir, weil wir zu viel arbeiten und dabei zu wenig Werkstolz erleben. Flow braucht die Möglichkeit zum fokussierten Arbeiten und Aufgaben, die bestmöglich zu den Begabungen und Werten der Mitarbeitenden passen.

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C.W.: Wie können Führungskräfte und HR-Abteilungen frühzeitig erkennen, wenn Mitarbeitende unter psychischer Belastung leiden – und welche präventiven Maßnahmen sind sinnvoll?

Wir haben eine ambivalente Beziehung zu Stress. Einerseits ist es imageträchtig gestresst und damit wichtig zu sein. Wer will schon sagen: „Ich habe keinen Stress.“ Andererseits leiden viele mehr oder weniger bewusst unter Stress. Das Sanitätsprinzip „Nicht gleich die versorgen, die am lautesten schreien“ gibt auch Führungskräften eine Orientierung. Führungskräfte und HR-Verantwortliche sollten lernen, die feinen Signale wahrzunehmen, die anzeigen, dass Mitarbeitende an ihre Belastungsgrenzen geraten. Es geht weniger um die spektakulären Zusammenbrüche, sondern um die kleinen Veränderungen im Alltag: eine merklich abnehmende Freude an Aufgaben, Rückzug aus sozialen Kontakten, erhöhte Gereiztheit oder Perfektionismus, der jede Leichtigkeit verdrängt. Auch körperliche Anzeichen wie Schlafprobleme, häufige Erkältungen oder Konzentrationsschwierigkeiten sind Warnleuchten des Systems. Wer aufmerksam hinhört, erkennt, wenn jemand beginnt, „durchzuhalten“ statt „mitzuhalten“. Gerade leistungsstarke, engagierte Menschen geraten leicht in diese Spirale – weil sie nicht jammern, sondern immer weiter funktionieren.

Für Führungskräfte bedeutet Prävention vor allem: Hinschauen, Nachfragen, Vertrauen schaffen. Es ist Aufgabe der Unternehmenskultur, Räume zu öffnen, in denen über Belastung gesprochen werden darf, ohne Schwäche zu signalisieren. HR kann durch systematische Beobachtung, Feedback-Gespräche und Gesundheitsprogramme Strukturen schaffen, die Achtsamkeit institutionalisieren. Entscheidend ist ein Klima, das Leistung und Menschlichkeit verbindet: wo Erholung als Teil von Erfolg verstanden wird. So entsteht eine Kultur der Energiepflege – in der Stresskompetenz kein Luxus ist, sondern eine Grundlage für nachhaltige Spitzenleistung.

Darüber hinaus gibt es noch eine betriebsübergreifend validierte Messmethode der gesundheitsförderlichen oder -belastenden Arbeitsbedingungen. Aufbauend auf dem Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky mit dem Sense of Coherence (SoC) hat die Universität Zürich eine Skala zur Erfassung des arbeitsbezogenen Kohärenzgefühls Work-SoC entwickelt. Dieses arbeitsbezogene Kohärenzgefühl beruht auf der wahrgenommenen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit der aktuellen Arbeitssituation einer Person. Er ergibt aus dem Zusammenspiel der individuellen Charakteristiken der Persönlichkeit und ihrer Ressourcen sowie dem Arbeitsumfeld wie etwa Räume, Strukturen und Prozesse. Die höchste Korrelation zwischen arbeitsbezogenen Bedingungen und Work-SoC wiesen die Wertschätzung und das unterstützende Verhalten der Führungskraft auf. Bedeutsame Zusammenhänge bestehen auch zwischen Work-SoC und positiven Gesundheitsindikatoren sowie mit Arbeitsengagement und Leistungsstärke. Das gilt ganz besonders für die psychische, soziale und semantischen Gesundheitsaspekte.

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C.W.: Welche Verantwortung tragen Führungskräfte für das psychische Wohlbefinden ihrer Teams – und wie kann man sie dafür sensibilisieren und befähigen?

Führungskräfte tragen eine Fürsorgepflicht für ihre Mitarbeitenden. Wer führt, prägt das Klima, in dem Menschen arbeiten und damit ihr psychisches Wohlbefinden. Stress erzeugt Tunnelblick: Diejenigen, die Unterstützung am dringendsten brauchen, erkennen das oft selbst nicht mehr. Umso wichtiger ist die achtsame Wahrnehmung von außen. Warnsignale zeigen sich in Rückzug, Gereiztheit oder übertriebenem Perfektionismus. Besonders schädlich ist nicht die hohe Arbeitslast, sondern emotionaler Stress durch ungelöste Konflikte, Ausgrenzung oder schlechte Stimmung. Eine Gallup-Studie belegt: Schlechte Führung kostet die deutsche Volkswirtschaft Milliarden, weil sie Menschen ihre Energie raubt.

Echte Prävention beginnt mit Führung auf Augen- und Herzensebene. Command and Control hat mit Ausnahme von existentiellen Krisensituationen ausgedient. Führungskräfte schaffen Vertrauen und Sicherheit, wenn sie zuhören, offen kommunizieren und Verantwortung teilen. Wer Vertrauen schenkt, stärkt Motivation, Kreativität und Resilienz. Gerade in der Ära der Künstlichen Intelligenz und virtuellen Teams gewinnt dieses Führen mit Vertrauen noch mehr an Bedeutung: Wenn physische Nähe fehlt, braucht es emotionale Nähe. Technologie kann Arbeit erleichtern, aber sie ersetzt kein echtes Interesse, kein ehrliches Gespräch, keinen aufmerksamen Blick.

Es braucht eine Führungskultur, in der Leistung und Menschlichkeit kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig tragen. In einer digitalen Welt bleibt Vertrauen die wichtigste Verbindung zwischen Menschen – und das Herzstück wirksamer, gesunder Führung.

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C.W..: Wie lässt sich eine Kultur schaffen, in der offen über Stress, Überforderung oder mentale Gesundheit gesprochen werden kann, ohne Stigmatisierung zu riskieren?

Es braucht einen bewussten Paradigmenwechsel der Arbeitswerte. In der alten Logik, die ich als Souveränität 1.0 bezeichne, gilt: Stärke zeigt, wer alles allein schafft, Schwäche zeigt, wer Unterstützung braucht. Dieses Verständnis von „Sei stark!“ hat viele leistungsorientierte Menschen in Daueranspannung geführt – bis zur Erschöpfung. Souveränität 2.0 bedeutet hingegen innere Stärke durch Verbundenheit. Sie entsteht, wenn wir es als Kompetenz erkennen, unsere Grenzen wahrzunehmen, uns Unterstützung zu organisieren und Hilfe anzunehmen. Verantwortung zu teilen und auf die Kraft des Miteinanders zu vertrauen. Auch der Stressverstärker „Sei beliebt!“ – das ständige Bemühen, es allen recht zu machen – raubt Energie und Authentizität. Wer es wagt, klar und respektvoll Grenzen zu setzen, gewinnt an Glaubwürdigkeit und Selbstachtung. Führungskräften kommt dabei die entscheidende Vorbildrolle zu. HR kann Führungsteams darin unterstützen. Als Orientierung kann dabei das Flugsicherheitsprinzip dienen: Zuerst sich selbst mit Sauerstoff versorgen, um dann die anderen unterstützen zu können.

Die Grundspannung unseres Gehirns ist einerseits der Wunsch nach Autonomie und andererseits nach Verbundenheit. Die Balance zwischen ICH- und WIR-Sein ist in unserer Kultur in Richtung einer Überdosis Individualismus verrückt. Gerade in Zeiten der Digitalisierung und von Home-Office brauchen wir dringend wieder eine ausgeprägtere Wir-Kultur. Das Zukunftsinstitut hat vor ca. 1 Jahr die neuen Megatrends veröffentlicht, die jene aus den 90er-Jahren ablösen, so z.B. wird nach dem Megatrend der Individualität jetzt von Identitätsdynamik gesprochen, der Bedeutung von Zugehörigkeit. So wandelt sich Stärke vom „Ich schaffe das allein“ zum „Gemeinsam sind wir wirkungsvoll“.

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Hier können sie den Artikel im Magazin TRAiNiNG lesen: „Wohlbefinden ist mehr als ein Benefit“

Bildnachweis: iStock/ArtistGNDphotography

Über: Monika Herbstrith-Lappe

Geschäftsführende Unternehmerin von Impuls & Wirkung – Herbstrith Management Consulting GmbH, High Performance Coach, Keynote Speaker, Top Trainerin, Certified Management Consultant, Autorin von Büchern und Fachartikeln