„Heute schon tun, woran andere morgen erst denken. Beständig ist nur der Wandel.“ Der 1. Teil dieses Zitates von Heraklit ist gültiger denn je. Wir sind in einer Phase essentieller Weichenstellung, in denen es unglaublich viele Chancen und mindestens ebenso viele Risiken gibt. Die einen werden durch Digitalisierung und Industrie 4.0 einen starken Aufwärtssog und die anderen eine bedrohliche Abwärtsspirale erfahren. Doch der 2. Teil von Heraklits Ausspruch stimmt nicht mehr: Der Wandel ist nicht mehr beständig. Der Wandel unterliegt selbst einem Wandel – vom continuous zum disruptive change. Wir leben in einer Welt der Umbrüche, der radikalen, weil prinzpiellen Veränderungen. Als Mathematikerin bezeichne ich es als Diskontinuitäten und Singularitäten, die sich der Vorhersagbarkeit entziehen. Ich habe dafür das Konzept „Souveränität 4.0 in der VUCA-Welt“ entwickelt.
Souveränität 4.0 in der VUCA-Welt
Unsere Bildungseinrichtungen zielen auf Souveränität 1. Ordnung ab. Dabei streben wir an, alles zu können und zu wissen, makellos und fehlerfrei zu funktionieren. „Sei perfekt!“ ist dabei der verinnerlichte Appell. Hilfe und Unterstützung anzunehmen oder auch Pausen zu machen, wird als Zeichen der Schwäche verstanden. Verbessern kann bzw. muss man sich noch, wenn man noch nicht perfekt ist. Fehler werden unter den Teppich gekehrt oder münden in Rechtfertigungen und Beschuldigungen. Souverän 1.0 sind wir auch Lernmuffel: Lernen muss man noch, wenn man noch nicht genug gelernt hat. Diese Einstellung wird unserer schnelllebigen Welt in keiner Weise gerecht.
Souveränität 2.0
Friedemann Schultz von Thun hat daher den Begriff Souveränität 2. Ordnung eingeführt: Souverän zu agieren inkl. Ecken und Kanten, Fehlern und Makel. Statt Perfektion wird nun Stimmigkeit angestrebt. Das bedeutet, dass man einerseits authentisch agiert und sich andererseits in die jeweiligen Situationen anpasst. Ich ergänze noch als 3. Säule der Stimmigkeit die Rollenklarheit. Wir alle verkörpern unterschiedliche Rollen in unserem beruflichen und privaten Leben. Im Theater spricht man von Figuren, die dadurch entstehen, dass Menschen mit ihren individuellen Persönlichkeiten aus dem Blickwinkel der Rolle heraus bestimmte Interessen vertreten. Daraus ergibt sich ein zentrales Prinzip von Konfliktmanagement: Betrachte Konflikte als Aufeinanderprallen von Interessen und nicht von Menschen. Übrigens: Früher waren strahlende Helden gefragt. Jetzt bevorzugt man ProtagonistInnen mit ausgeprägten Stärken und auch liebenswürdigen Schwächen, inneren Zweifeln und Konflikten. Sie sind viel greifbarer und daher besser begreifbar – was die Grundlage schafft, sie als glaubwürdig zu erleben und ihnen Vertrauen zu schenken.
Souveränität 3.0
Bertolt Brecht mahnt: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war!“ Für die Souveränität 3.0 ist auch Wendigkeit und Agilität gefragt. Mit den Worten von Conrad Celtis: „Wer klug ist, ändert mit den Umständen seinen Plan.“ Ich nenne es auch zielstrebige Wendigkeit. Gerade weil die Agilität im Manöver und in der Taktik zunehmend gefordert ist, braucht es klare Ziele und eine klare Strategie. Wenn ich beim Segeln weiß, welches Ziel ich auf welcher Route ich anstrebe, dann kann ich auch hart am Gegenwind kreuzend vorankommen. Mahnend zitiere ich gerne Mark Twain: „Als wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir die Anstrengung.“ Operative Hektik ist häufig ein Symptom für mangelnden strategischen Fokus.
Souveränität 4.0
Souveränität 4.0 wird unserer VUCA-Welt gerecht. V wie Volatilität, d.h. extreme Schwankungen und damit verbunden schlechte Vorhersagbarkeit. Physikalisch ausgedrückt: große Amplituden bedingt durch geringe Dämpfung. Wir hatten heuer den kältesten Jänner und den wärmsten März jeweils seit sehr vielen Jahren. Wahlverhalten oder Finanzmärkte sind immer schwieriger vorhersehbar. Wieder mit den Worten von Mark Twain: „Voraussagen soll man unbedingt vermeiden, vor allem solche über die Zukunft.“ Als Statistikerin blutet mir das Herz, dass so häufig beschreibende Statistik die Vergangenheit betreffend mit schließender Statistik für die Prognose der Zukunft verwechselt wird. Zukunftsforscher Matthias Horx: „Ich habe festgestellt, dass die Menschen sich gar nicht wirklich für die Zukunft interessieren. Sie interessieren sich eher für die Verlängerung der Vergangenheit ins Morgen. Genau das aber hat die Zukunft nicht im Programm.“
Eng damit verbunden ist das U wie Ungewissheit. Das löst im menschlichen Hirn Ängste und damit Enge bzw. Engstirnigkeit aus. Führen in Zeiten großer Ungewissheit ist emotionale Schwerarbeit!
C wie Complexity oder Komplexität. Die Wechselwirkungen sind in unserer globalen Welt kaum mehr zu überblicken und umso schwieriger zu steuern. Der Vulkanausbruch in Island führt zu Flugzeugverspätungen in Asien. Natürlich hält sich radioaktiv verseuchtes Wasser vor den Küsten Fukushimas sich nicht an politisch beschlossene Sperrzonen sondern breitet sich über den Pazifik aus. Die sogenannte europäische Finanzkrise hat ihren Ursprung in einer Immobilienblase der USA.
Und schließlich A wie Ambiguitäten, d.h. Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Es wird noch etwas dauern, bis wir Spracheingabegeräte Wortwitz beibringen: „Ich habe mein Leben überdacht. Jetzt regnet es nicht mehr herein.“ Wir sollten Humor viel ernster nehmen, ist eine meiner beiden Lieblings-Widersprüchlichkeiten. In der Quantenphysik wird man darin geprägt, dass dichotomisches entweder-oder-Denken zu kurz greift und es ein Kreativität-forderndes sowohl-als-auch-Denken braucht, um unsere Welt zu verstehen. Alles ist im Umbruch, aber die Servicequalität soll stabil bleiben. Die Prozesse werden immer globaler – und das im Zeitalter der vernetzten IndividualistInnen, die alles individualisiert, sofort und regional wollen. Da gibt es eine lange Liste von fordernden Ambiguitäten.
Meine andere Lieblings-Widersprüchlichkeit: „Entwickle dich weiter und bleibe du selbst.“ Das ist ganz nahe bei der Haltung der erfahrenen AnfängerInnen. Laut Heinz von Förster sind wir nicht Human Beings sondern Human Becomings. Senecas Worte bringen lebenslanges Lernen auf den Punkt: „Fang nie an aufzuhören. Höre nie auf anzufangen.“ Und ich bin eine bekennende Gegnerin der FORT-Bildung. Es geht um HIN-Bildung: Die höchst persönlichen individuellen Stärken entfalten und in eine (berufliche) wertegeprägte Gemeinschaft einbringen.
Erfahrene AnfängerInnen zum Meistern des Disruptive Change
Der Organisationsberater Wolfgang Looss nennt die erforderliche Einstellung „erfahrene AnfängerInnen“: Einerseits Erfahrungsschätze nutzen und andererseits die Bereitschaft Neues zu lernen. Mein Mann und ich tauchen z.B. seit einiger Zeit mit Nitrox, das mehr Sauerstoff enthält als normale Pressluft. Das braucht zusätzliches Wissen und teilweise anderes Verhalten. Das ist ein Continous Change. Tauchen mit Trockenanzug, mit Kreislaufgeräten, Höhlentauchen und auch technisches Tauchen mit mehreren Flaschen mit unterschiedlichen Tauchgemischen entspricht einem kontinuierlichen Weiterentwickeln. Wenn ich jedoch Apnoe d.h. nur mit den an der Oberfläche gefüllten Lungen frei tauchen möchte, so entspricht das einem Disruptive Change. Denn plötzlich herrscht eine völlig konträre Tauchphysik: Während bei allen obigen Beispielen es darum geht, dass ich unter Wasser meine Lungen fülle – je tiefer ich tauche umso komprimierter ist die Atemluft und desto mehr Luft passt in das konstante Volumen der Lunge – verringert sich beim Freitauchen einmalig die in der Lunge befindliche Luft und man muss darauf achten, dass die Lunge nicht kollabiert. Erfahrene AnfängerInnen meint: Vermutlich habe ich als Flaschentaucherin ein besser trainierte Atmung und einen längeren Atem. Ich bin mit der Unterwasserwelt vertraut. Meine Beine sind vom Flossenschlag trainiert – auch wenn ich beim Apnoe-Tauchen andere Flossen verwende. UND ich brauche eine neue Technik und neue Strategien der Unterwasser-Fortbewegung, um Tauchgänge auskosten zu können.
Beispiele im Wirtschaftskontext sind neben naheliegenden Umbrüchen der digitalen Welt wie Fotografie oder Navigationsgeräten statt Landkarten auch die Logistikbranche: Der Wandel von Pferdefuhrwerken zu LKWs war ein kontinuierlicher. Doch z.B. LKW Walter, ein Unternehmen, dass LKW nach wie vor im Namen führt, besitzt seit einiger Zeit keinen einzigen LKW: Vielmehr sind sie zu einem Transport-Broker geworden. Das ist ein Disruptive Change. Oder ein Stratege von BMW erzählt, dass sich das Unternehmen als Premium Mobilitätsanbieter versteht und nicht mehr als Premium-Automobilhersteller. Dieses Unternehmen ist auch ein schönes Beispiel für den Grundsatz von Dalai Lama:
„Öffne der Veränderung deine Arme und behalte deine Werte dabei im Auge.“
Denn BMW bleibt auch im sich abzeichnenden Zeitalter selbstfahrender Autos ihrem Grundsatz „Freude am Fahren“ treu.
Tipps, was für den Erfolg von Leadership in der VUCA-Welt entscheidend ist, finden Sie im ausführlicheren Interview, das ich Michael Ghezzo von Confare gegeben habe.
Das Training
„Disruption und Führung – Management Maximen für das Digitale Zeitalter“
hat am 19. November 2018 | 09.00 – 17.00 | Headquarter Confare GmbH stattgefunden.
Weitere Termine in Planung.
Über: Monika Herbstrith-Lappe
Geschäftsführende Unternehmerin von Impuls & Wirkung – Herbstrith Management Consulting GmbH, High Performance Coach, Keynote Speaker, Top Trainerin, Certified Management Consultant, Autorin von Büchern und Fachartikeln
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