Für meine Anmoderationen wünsche ich mir immer: „Was sie erzählt, ist wissenschaftlich fundiert und merk-würdig verpackt. Lassen Sie sich überraschen!“ Neben der Bedeutung „würdig, dass ich es mir merke“ bzw. „bemerkenswert“ – weil einprägsam – assoziieren viele mit „merkwürdig“ etwas Verrücktes. Tatsächlich ist Merkwürdiges verrückend: Es verändert die Sichtweise. Es erweitert den Denkhorizonte & das Handlungs-Repertoire.
Vom Hernstein Institut für Management und Leadership bin ich eingeladen worden, einen Fachartikel für das Management-Magazin „hernsteiner“ über irritierende Interventionen zur Förderung von Kreativität und Innovationskraft zu schreiben. Er ist im „hernsteiner“ 1/2023 unter dem Titel
„Die Irritation ist dem Menschen zumutbar“
erschienen. Hier die Langversion.
Zu Unrecht unbeliebt, weil tatsächlich ermöglichend
Dass Irritation im Allgemeinen unbeliebt ist, äußert sich auch darin, dass ich auf meinem Computer „ärgernd“, „störend“ und „irremachend“ als Synonyme für „irritierend“ angezeigt bekomme. Auch die anderen beiden angebotenen Synonyme sind auf den ersten Blick nicht positiv besetzt: „verunsichernd“ und „aufwühlend“. Doch genau darin besteht die Innovationskraft der Irritation: Sie befreit von vermeintlicher Sicherheit und zeigt Handlungsnotwendigkeiten auf. Die aufwühlende Wirkung führt zu einem Wachrütteln. Die erregende Wirkung der Irritation kann als Anregung für eine Initialzündung genutzt werden. Neurowissenschaftlich und evolutionspsychologisch ist Irritation eine Variante der Grundemotion Überraschung. Diese lässt uns hellwach werden, um rasch reagieren zu können. Weil sich zum Überleben der Grundsatz
„Better safe than sorry“
oder „lieber einmal zu viel gefürchtet als tot“ bewährt hat, kippt das flüchtige Gefühl der Überraschung tendenziell eher zu Angst und Schrecken als zur freudigen Verwunderung. Wenn einerseits die Gefahr für bewältigbar eingeschätzt und andererseits das Überwinden der Angst als lohnend erscheint, dann macht Not erfinderisch. So gelingt es, diese Irritation als wertvolle Quelle für Kreativität und Innovationskraft zu nutzen.
Am Anfang war die Irritation
Max Planck wurde noch abgeraten Physik zu studieren, weil schon fast alles erforscht sei und es nur mehr um Details ginge. Zum Glück hat er diesen Rat nicht befolgt. Eine Detailfrage war z.B. mit welcher Geschwindigkeit sich unsere Erde im Äther, dem damals unbestritten angenommenen Trägermedium des Lichts, bewegt. Michelson und Morley haben sich dazu eine raffinierte Versuchsanordnung ausgedacht. Beim Schwimmen macht es einen Unterschied, ob man einerseits eine Strecke mit und zurück gegen die Strömung schwimmt oder andererseits hin und zurück jeweils quer zur Strömung. Zu ihrer großen Verwunderung haben ihre Messungen ergeben, dass es für das Licht KEINEN Unterschied macht, ob man es längs oder quer zum „Ätherwind“ hin und her schickt. Dass war nicht nur eine Irritation sondern eine Erschütterung in der Welt der Physik. Mehr als 50 Jahre lang, haben sich die besten Naturwissenschaftler:innen um die Lösung gerungen bis Herr und/oder Frau Einstein – das lässt sich nicht mehr genau recherchieren – die Lösung gefunden haben. Für die mathematische Lösung der speziellen Relativitätstheorie reichen Subtraktion, Bruchrechnung, Quadratur und Wurzelziehen. Diese Grundrechnungsarten sind nicht der Grund, warum so viele vor den Einsteins an der Lösung gescheitert sind. Vielmehr sind sie von der vermeintlichen Sicherheit einer Grundannahme ausgegangen, die ihnen so selbstverständlich war, dass es ihnen gar nicht bewusst war und sie diese auch nicht hinterfragt haben. Es hat das Wachrütteln durch ein überraschendes Versuchsergebnis und eine kulturelle Verstörung gebraucht um die Hürde – die im Lateinischen ursprüngliche Bedeutung von Irritation – zu überwinden: Vor dem Hintergrund der zerfallenden Monarchie, war es für die Einsteins denkmöglich, dass auch die Annahme des einen Raumes verfällt und es stattdessen mehrere Räume mit unterschiedlichen Wahrheiten bzw. Zeit, Raum und Geschwindigkeit gibt. Die Denkleistung der Speziellen Relativitätstheorie besteht nicht in mathematisch-logischem Denken, sondern im Bewusstwerden und Überwinden einer irrigen Annahme.
Die Erkenntnisgewinne in den Naturwissenschaften bewahrheiten das Zitat von Matthias Varga von Kibéd:
„Aus der Knospe der Verwirrung
entspringt die Blüte der Erkenntnis.“
Auf dem Foto sind übrigens die wunderschönen gelben Kelchkorallen, die tagsüber relativ unscheinbar sind und bei Dunkelheit „aufblühen“, indem diese Tiere ihre Polypen ausstrecken. Für mich einer der vielen Gründe, warum ich Nachttauchgänge ganz besonders liebe. Meine „Lieblingsblumen“ sind diese Blumentiere, zu denen auch die Korallen zählen. Warum Tiere? Pflanzen produzieren biologische Strukturen im Wesentlichen aus Licht. Tiere konsumieren biologische Stoffe. Unter Wasser können Tiere ortsfest sein, weil das Futter, das sie fressen, durch die Strömung zu ihnen kommt und sie sich dazu nicht bewegen müssen.
Es gibt immer mehr Möglichkeiten
In der modernen Mathematik und Physik, geprägt vom philosophischen Denken des Wiener Kreises, ist man sich der Annahmen sehr bewusst. Es gehört zur üblichen Gepflogenheit, Lösungsräume zu vergrößern, indem man Annahmen verändert. Im Zahlenraum der Natürlichen Zahlen hat 3 minus 5 oder 7 geteilt durch 5 keine Lösung. Im Zahlenraum der ganzen Zahlen hat die erste Aufgabenstellung eine Lösung, in dem der Rationalen Zahlen beide. Ich habe es mir daher zur Gewohnheit gemacht, auf die Aussage oder meinen eigenen Gedanken „Das geht nicht.“ reflexartig umzupolen in: „SO geht es nicht. Was können wir an den Voraussetzungen ändern, damit es gehen könnte?“
Robert Musil, ebenfalls geprägt vom Wiener Kreis, hat das 4. Kapitel seines Romans „Mann ohne Eigenschaften“ mit:
„Wenn es den Wirklichkeitssinn gibt,
muss es den Möglichkeitssinn geben“
Die Botschaft darin ist der Appell:
Schaffen wir uns mögliche Wirklichkeiten &
nutzen wir unsere wirklichen Möglichkeiten.
Der Autor Hermann Scherer spricht in diesem Zusammenhang von Chancen-Intelligenz. Das beschreibt die Fähigkeit, Chancen zu erkennen und die Entschlossenheit, Chancen zu ergreifen. In der deutschen Sprache fasst die Doppeldeutigkeit der Phrase „Chancen wahrnehmen“ diese beiden Aspekte zusammen. Carol Dweck nennt diese Haltung Growth Mindset, der die Weiterentwicklung als Ziel hat – im Gegensatz zum Fixed Mindset, das das Streben nach Stabilität & Sicherheit kennzeichnet.
Albert Einstein vertritt auch die Überzeugung:
„Inmitten von Schwierigkeiten liegen günstige Gelegenheit“.
Diese zu erkennen, erfordert Kreativität.
Humor ernst nehmen und g’scheit blödeln
Laut Duden ist
„Humor die Fähigkeit und Gabe eines Menschen, der Unzulänglichkeiten der Welt und der Menschen, den Schwierigkeiten und Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen, sie nicht so tragisch zu nehmen,
und über sie und sich lachen zu können“. Humor und Heiterkeit sind eine Lebenseinstellung, nämlich die Bereitschaft, Dinge auch anders als gewohnt zu betrachten. Nicht umsonst haben die beiden Begriffe „Witz“ und „Weisheit“ gemeinsame Sprachwurzeln. Für die Volksweisheit
„Durch jeden Witz pfeift ein Hauch von Wahrheit“
ist diese augenzwinkernde Aussage ein typisches Beispiel:
„Ich habe mein Leben überdacht.
Jetzt regnet es nicht mehr herein.“
Die Pointe lebt einerseits von der Doppeldeutigkeit des Wortes „überdacht“. Andererseits stimmt es, dass Reflexionsfähigkeit schützend in den „Schlechtwetterzonen des Lebens“ wirkt, weil es Distanz schafft. Die dissoziierende Wirkung von Humor fördert die Kreativität der Lösungsfindung, weil es uns zusätzliche Sichtweisen erschließt und so das Handlungsrepertoire erweitert. Wir können uns lachend aus kritischen Situationen schütteln. Tatsächlich ist Lachen evolutionspsychologisch betrachtet das mächtigste Stressventil. Andererseits können wir uns humorvoll in Kreativität hineinsteigern. Wenn „der Schmäh rennt“ und wir gemeinsam g’scheit blödeln, dann sprudeln die Ideen. Das mehrt die Möglichkeiten und damit die Erfolgschancen.
Denkanstößig & liebevoll verstörend irritieren
In der Physik ist die Haftreibung, die es zu überwinden gilt, um in Bewegung zu kommen, wesentlich größer als die Roll- und Gleitreibung, die man bewältigen muss, um in Bewegung zu bleiben oder zu beschleunigen. Mountainbiker:innen wissen, dass es viel mühsamer ist, vom Stand bergauf loszufahren als quer oder sogar bergab zu starten und dann Richtung bergauf umzulenken. Entscheidend ist es, in Bewegung zu kommen. In unserem Gehirn sind dafür die in den unbewussten Tiefen liegenden Basalganglien entscheidend, die von den im episodischen Gedächtnis gespeicherten Emotionen gesteuert werden. Der „vernünftige“ Präfrontale und der „gewissenhafte und anständige“ Orbitofrontale Cortex haben nämlich keine direkte Verbindung zu den motorischen Zentren im Gehirn, mit denen wir Bewegungen steuern können. Die Basalganglien sind die Doorkeeper auf dem Weg vom Wissen und Sprechen zum Handeln. Nicht Sachargumente, sondern Emotionen sind entscheidend, ob Menschen in die Gänge kommen. Nur wenn das, was es zu gewinnen gibt, höher emotional bewertet wird als das was als unangenehm oder unbequem befürchtet wird leiten die Basalganglien, die vom denkenden Vorderkopf gesendeten Intentionen zur Ausführung an die Bewegungszentren weiter.
Unbekannten und Neues ist für das Gehirn irritierend, da nicht auf Erfahrungen im episodischen Gedächtnis zurückgegriffen werden kann. Das ist zunächst ein nicht so angenehmes Gefühl, birgt aber die Chance, Situationen neu zu bewerten und Innovation zu kreieren. Milton E. Erickson empfiehlt daher:
„Der beste Garant für die Veränderung
ist die Unvoraussagbarkeit der Interventionen.“
Auch paradoxe Interventionen wie z.B. die Verschlimmerungsfrage „Was können Sie dazu beitragen, die Situation völlig unerträglich zu machen?“ helfen liebevoll verstörend Ohnmachtsgefühle und beschränkende Glaubenssätze zu überwinden.
Ingeborg Bachmann hat gesagt:
„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Liebevoll verstörende Irritationen auch: In der Zumutung kommt auch das Zutrauen und Vertrauen zum Ausdruck, dass es mein Gegenüber schaffen wird.
Lob des Irrtums
Die Irritation ist sprachlich nicht nur der Verwirrung, sondern auch dem Irrtum ähnlich. Tatsächlich birgt Fortschritt immer auch das Risiko des Irrtums. Mit den Worten von Cédrik Villani, dem Träger der Fields Medaille, dem „Mathematik-Nobelpreis“:
„Man macht kaum Fortschritte, wenn man nicht akzeptiert,
sich einer Situation auszusetzen, in der man verwundbar ist.“
Da ist es sinnvoll sich bewusst zu machen, dass „gescheitert“ nur der Buchstabe „t“ von „gescheiter“ unterscheidet. Weit verbreitet ist die Devise: „Niederfallen, aufstehen, Krone zurechtrücken und weitergehen.“ Da fehlt allerdings Entscheidendes. Vor dem Weitergehen sollten man reflektierend nachdenken, was man ab jetzt anders macht, um das Risiko des Niederfallens zu reduzieren. Nur so trifft Robert Musils Aussage zu:
„Wir irren vorwärts.“
Von der Komfortzone des Vertrauten in die Komm-Vor-Zone der Möglichkeiten
Unser Gehirn ist geprägt von einem akuten Ressourcenmangel – insbesondere in unserem Arbeitsgedächtnis, dass nur ca. 7 Sinneinheiten wie z.B. Gegenstände, einzelne Worte, einfache Sätze etc. gleichzeitig verarbeiten kann. Daher greift es wann immer möglich auf bekannte Muster und Verhaltensmuster zurück. Sie kennen das vielleicht, wenn sie wie von selbst auf einer bekannten Strecke mit dem Auto fahren. In Anlehnung an den Liedtext von Juliane Werding gilt daher neurowissenschaftlich fundiert:
„Denke nie, gedacht zu haben,
denn das Denken der Gedanken ist das gedankenlose Denken.
Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.
Aber denken tust du oft nicht.“
Unser Hirn liebt die Komfortzone des Vertrauten, weil es ressourcenschonend ist. Irritierende Denkanstöße helfen, Denkspurrillen zu überwinden und damit wirkliches Denken zu ermöglichen. So wie sie plötzlich hell wach werden, wenn sie ein überraschendes Objekt auf der Fahrbahn sehen und blitzschnell reagieren.
Wenn sie wieder alte Glaubenssätze wie „Das kann ich nicht.“ oder „Das war schon immer so.“ heimsuchen können Sie das einfache Raframing vornehmen „Das kann ich NOCH nicht.“ oder „Das fällt mir DERZEIT NOCH schwer.“ oder „Das war BISHER so.“ oder „Das habe ich BISHER geglaubt.“
Sie können auch mit der Juko-Box-Methode gegensteuern. „Oh da ist sie wieder, die alte Platte. Dass sie aber auch immer wieder die gleiche Schallplatte spielen. Da sind ja so viele Schallplatten drinnen. Welche andere könnte ich denn stattdessen auflegen?“
Lernen und Verändern findet am Rand der Komfortzone statt. Die Komfortzone sprengen zu wollen, ist keine gute Idee. Das löst Schrecken und lähmende Ängste aus – sogar berechtigt, denn das wäre überfordernd. Viel klüger ist es, die Komfortzone immer wieder zu dehnen, indem man in bewältigbaren Schritten die Denk- und Handlungsmöglichkeiten erweitert.
„Aufblühen“ im Original „Flourishing“ nennt die positive Psychologie diese Prozesse: Wenn unsere Vorhaben glückt, erleben wir es als beglückend. Wir erleben die Genugtuung, weil wir genug getan haben. So blühen wir auf. Wir erweitern unsere Kompetenzen und vertiefen unsere Ressourcen. Das stimmt zuversichtlich. Was sich auch in der deutschen Sprache widerspiegelt: „Schaffen“ bezeichnet sowohl das Tun als auch das Gelingen. Unsere Sprache geht von der Annahme aus, dass wenn wir ins Tun kommen, es uns auch gelingen wird. Wenn wir etwas Rechtes geschaffen haben, dann können wir auch rechtschaffen müde ruhen. Daher meine Zusammenfassung:
Worte sind Samen,
aus denen zunächst die Knospe der Verwirrung
und in Folge die Blüten & Früchte der Erkenntnis erwachsen können.
Hier die gekürzte Version im „hernsteiner“:
„Die Irritation ist dem Menschen zumutbar“
Über: Monika Herbstrith-Lappe
Geschäftsführende Unternehmerin von Impuls & Wirkung – Herbstrith Management Consulting GmbH, High Performance Coach, Keynote Speaker, Top Trainerin, Certified Management Consultant, Autorin von Büchern und Fachartikeln
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